Yvonne Catterfeld grüßt „Guten Morgen Freiheit“
Oft ist ein Mensch viel mehr als das, was man in ihm sieht oder sehen will. Ecken und Kanten machen uns viel mehr aus als Klischees und vorgefertigte Meinungen, die das Bild einer Person nicht selten verzerren. Natürlich bieten wir alle auch immerzu Projektionsflächen, ganz gleich, ob wir unseren Berufungen als Künstler folgen oder ob wir in Beziehungen Illusionen an unsere Charaktere heften lassen. Die erstrebenswerte Balance zwischen der Außenwahrnehmung und dem eigenen Selbstverständnis kann es aber nur geben, wenn wir mutig sind.
Yvonne Catterfeld: Mutterschaft, Kreislauf des Lebens und „Was bleibt“
Als ich Mutter eines kleinen Jungen wurde und zwangsläufig mehr Verantwortung als je zuvor hatte, befand ich mich, zunächst unterbewusst, bereits inmitten der Kreativphase, aus der mein neues Album resultieren sollte. Ich sah mich mit Themen konfrontiert, die ich vorher locker zur Seite schieben konnte: Nachhaltigkeit, Intuition, Vergänglichkeit, Aufbruch, Demaskierung, Freiheit, Neubeginn. Und immer wieder schoben sich Gedanken über den Kreislauf des Lebens in meine Sinne. Ich fragte „Was bleibt“, wenn doch alles vergänglich ist? Meine persönliche Antwort fand ich und verarbeitete sie im gleichnamigen Song. Für mich gibt es nichts Wichtigeres als meine Familie und ich entscheide seither konsequenter, was ich mit meiner Zeit anfange. Aus dieser Konsequenz ergab sich der Wunsch, nur das zu machen, was sich für mich richtig anfühlt.
Der Zeitpunkt erschien ideal, aus meinen neuen Erkenntnissen zu schöpfen und sowohl musikalisch wie auch inhaltlich neue Wege zu beschreiten. Ich wusste, wer ich nicht bin und ließ mich auf mich selbst ein. Der persönliche und kreative Aufbruch hatte begonnen. Daraus entstand eine bislang für mich nie dagewesene künstlerische Freiheit. Und immer wieder streifte ich ein gedankliches Post-it, auf das ich drei Worte schrieb, die meinem neuen Album letztendlich seinen Titel gaben: Guten Morgen Freiheit.
Yvonne Catterfeld mit eigenem Label für das neue Album
Freiheit ist ein großes Wort. Wir alle sehnen uns danach und vergessen gerne, dass Freiheit auch eine schmerzliche Erfahrung sein kann, wenn die Haltegriffe fehlen. Exakt an diesem Punkt ging ich einen Schritt weiter, ließ die für mich neu erlebte Freiheit ohne Plattenlabel wachsen. Der Zufall wollte es, dass ich meinen neuen Manager just an jenem Punkt kennenlernte, an dem sich die eigene Regieführung meiner Karriere richtig anfühlte. Mit seiner Hilfe hob ich mein eigenes Label aus der Taufe, um unabhängig von Fremdprojektionen zu sein und ausschließlich auf meine innere Stimme hören zu können. Wir haben es Veritable Records genannt, weil die Vokabel Véritable im Französischen für das Echte, das Reine, das Unverfälschte steht. Außerdem lässt sich aus dem Wort das lateinische Veritas, das Wahre ableiten. Ich habe das Bedürfnis, wahrhaftig zu sein. Mit mir und mit den Menschen, die meine Musik hören. Das Leben ist zu kurz für Wiederholungen. Ich will mich selbst überraschen, sehen wie weit ich gehen kann, in den Grenzen, die Eigenverantwortung und Selbsterkenntnis nach sich ziehen. Und trotzdem ist alles offen: die Musik, die Texte, die Fragen, die ich darin stelle.
Yvonne Catterfeld legt das Handy mal zur Seite
„Guten Morgen Freiheit“ erscheint in einer Zeit großer Verunsicherung. Die Welt wird scheinbar zunehmend komplexer, was viele Ängste schürt. Gruppierungen, die einfache Antworten liefern, erleben Zulauf. Ich finde es schwierig, auf die Fragen, die ich in meinen neuen Songs stelle, Antworten zu liefern. Zum einen, weil es mich geradezu lähmen würde, wenn ich mir das große Statement zur Aufgabe machen würde. Der Hang zum Erhabenen ist mir fremd. Zum anderen aber auch, weil es nicht die eine, einfache Antwort auf die Fragen unserer Zeit gibt. Es gibt viele Wahrheiten und ich finde es wichtig, dass wir einander zuhören im Offenbaren unserer vielen Geschichten und Haltung sowie Rückgrat zeigen.
Sämtlichen populistischen Tendenzen zum Trotz. Auf Guten Morgen Freiheit singe ich von meinen Wahrheiten und meinen Beobachtungen anderer Lebensweisen. Es gab viele Impulse, die meine Arbeit beschleunigten. Ein wichtiger Impuls war mein Wunsch, meine Zuhörer zum eigenen Denken anzuregen. Wenn man seine eigenen Verletzbarkeiten erkennt, wird man auch sensibel für die Bedürfnisse der anderen. Und manchmal wirken kritische Töne, wirkt eine Provokation Wunder, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, ob wirklich alles besser, größer, schneller, lauter werden muss, um gut genug zu sein. Diesem Zivilisationsphänomen bin ich in den Songs „Irgendwas (feat. Bengio)“ und „Besser werden“ auf der Spur.
Yvonne Catterfeld holt sich namhafte Kollegen aufs Album
Die Beatgees, ein Produzententeam aus Berlin, das sich mit Arbeiten für MoTrip, Curse, Namika, Cro und Chima profiliert hatte, verstand und unterstützte meine musikalische und inhaltliche Vision für Guten Morgen Freiheit auf Anhieb. Das Kleine im Großen, das Große im Kleinen zu suchen, war mein Kompass beim Verfassen der Songs, die ich skizzierte, bevor ich sie mit Kollegen, die inzwischen zu Freunden geworden sind, finalisierte. Es gibt leise Töne, die in meiner Auffassung von moderner, urbaner Popmusik tänzelnd zwischen HipHop, Soul und klassischem Singer-Songwriting mäandern.
Und es gibt große Momente mit Bläsern aus New York und Streichern aus Düsseldorf, die meinem musikalischen Ideal Flügel verleihen. Ich bin glücklich darüber und auch stolz darauf, dass Sprache und Melodie in allen Songs Einheiten bilden, die packen und auf emotionale und gedankliche Fährten locken können. Sind es nicht vor allem, die leisen, nackten Momente, die kein Brimborium brauchen, um ihre Eindrücklichkeiten nachhaltig werden zu lassen? Ich danke jedem, der sich mit meiner neuen Platte auseinandersetzt. Denn um den Dialog geht’s. In all seiner Wahrhaftigkeit. Es fiel mir nicht schwer, die Fenster aufzureißen und Guten Morgen Freiheit als Leitmotiv in meinen Gedanken zu tragen. Denn oft ist ein Mensch viel mehr als das, was man in ihm sieht oder sehen will.